Mut

Wahrscheinlich sind die meisten von euch auf Facebook und/oder Instagram. Und kennen darum diese Posts, bei denen auf einem Bild irgend eine Weisheit steht mit dem Namen des Weisheitsgenies darunter.
Ich lese die alle. Immer auf der Suche nach etwas, was mich zur Instant-Erleuchtung bringt. Wie alle meine Freund*innen bestätigen können, bisher leider ohne Erfolg.
Des Öfteren habe ich den Verdacht, dass die Weisheiten gar nicht von diesen Menschen sind und es noch viel weniger irgend eine „indianische Weisheit“ ist wie oft behauptet, sondern dass sie irgendwer von Omis Sprüchekalender abgeschrieben und bloss ein wenig abgeändert hat. Und sie bloss geteilt werden weil die Bestätigung so gut tut wenn wer was sagt, was man selber auch weiss. Und nicht, weil sie irgendwie weltbewegend wären. Null ReEvolutions-Potential. Null fresh. Abgestanden, bereits leicht faulig und hundert Mal durchgekaut.
Oh… Nur ganz kurz etwas dazwischen geworfen: Habt ihr euch schon mal überlegt, dass sich Kühe nonstop selbst in den Mund kotzen? Dass sie wiederkauen ist nur die halbe Wahrheit! Davor kotzen sie sich in den Mund! Ich finde, darüber sollte mehr gesprochen werden.

Aber zurück zum Thema. Weisheitssprüche. Ich habe auch einen erfunden. Ich glaube wirklich, er ist von mir. Meine Oma hatte kein Sprüchekalender, er muss von mir sein.

„Mut bedeutet nicht die Abwesenheit von Angst. Mut bedeutet, es trotz der Angst zu tun.“

Gut, nicht?
Ich mag den so richtig gern. Er spornt mich an. Und tröstet mich oft, weil ich durch meine Impulsivität dauernd Sachen anzettle und zusage, die mir eigentlich Angst machen. Was mir oft erst in den Sinn kommt, wenns schon zu spät zum Bremsen ist. Dann kann ich mir diesen Spruch sagen. Und fühle mich nicht mehr wie eine ängstliche Hosenscheisserin, sondern wie eine mutige.
Und weil ich ja voll nach diesem Spruch leben muss weil er der einzige ist, der von mir ist, habe ich vorgestern was gemacht, was endlos mutig ist.

Ich parkte in einem Wald und wollte dort schlafen. Alleine.
Meine Phantasie ist so grenzenlos, dass ich normalerweise nicht mal in die Nähe eines Waldes gehe in der Nacht. Denn da gibt es alles. Jedes Monster der Welt wohnt nachts im Wald.
Es war bereits dunkel als ich da ankam. Sofort schloss ich alle Türen und zwängte mich durch die Sitze nach hinten ins Auto. Ohne Licht natürlich, denn die Monster durften nicht wissen, dass ich es bin.
Eigentlich wollte ich mich sofort unter der Decke verstecken, doch der Mut in mir fand, es gäbe absolut keinen Grund dafür, dass ich mich nicht wie gewohnt ausziehen kann zum Schlafen. Auch nicht dafür, mich mit einer Geschwindigkeit auszuziehen, bei der die Gefahr besteht, dass ich mir mit dem Pulli den Kopf vom Hals reisse.
Also zog ich mich gekünstlelt gemächlich aus, warf eine genervte Grimasse in die Richtung meines Mutes und versuchte zu schlafen.
Nur ganz selten schaute ich aus den Fenstern um zu sehen, ob mich die Monster bereits entdeckt hatten. Wirklich nur so 2-3 Mal pro Stunde. Sonst lag ich regungslos da und wartete. Wartete. Wartete auf den scheiss Schlaf, der sich doch nun endlich erbarmen und mich k.o. schlagen soll.
Er kam nicht. Und plötzlich spürte ich, dass meine Blase voll war. Ich bereute, dass ich keine Windel vom Sohn meines Mitbewohners mitgenommen hatte. Denn ganz ehrlich: tausend Mal lieber hätte ich in einem Auto kauernd in eine Windel gepisst, als in den Monsterwald raus zu gehen!
Aber da war keine Windel. Nur ich, meine Blase und die Monster. Ich weiss nicht, warum ich mich sicherer fühlte dabei, mich wieder durch die Sitze zu quetschen und meine 7 Meter Beine zu entknoten nach dem Akrobatikakt um zur Vordertüre raus zu gehen anstatt einfach die Hintertüre zu öffnen.

Panisch pinkeln ist gar nicht so einfach. Meine Blase schrie: „Spinnst du, jetzt zu pinkeln? Renn! Renn um dein Leben! Ausserdem habe ich mal in einer Doku gehört, dass dich eine volle Blase vor dem Erfrieren bewahren kann weil du von innen gewärmt wirst! Es kann gut sein, dass du sehr weit rennen musst und du weisst, in den Bergen liegt immer noch Schnee!“
Es brauchte viel Überzeugungskraft, um sie zum Entleeren unserer einzigen Überlebenschance im Schnee zu bringen.
Und die Monster hatten endlos viel Zeit um sich leise zu nähern.
Ich hechtete zurück ins Auto, quetschte mich nach hinten, entknotete, versteckte mich unter der Decke, hörte auf mit Atmen und erstarrte.

Da waren sie. Alle!

Plötzlich gingen mir endlos viele Szenen durch den Kopf aus den Horrorfilmen, die ich mir nie ansehe. Wirklich nie würde ich mir einen Film antun, mit dem ich mir absichtlich Angst einjage, aber ich weiss haargenau, was in ihnen passiert. Wie es aussieht, wie es klingt.
Ein Zombie klebte plötzlich blutleer weiss an einer Fensterscheibe. Durch eine Ritze schlängelte sich eine Giftschlange ins Auto. Ein Dracula hackte mit seinen Eckzähnen Löcher ins Dach. Durch die Löcher sprühten böse Aliens Gift ins Auto das mich in Brei verwandeln würde, so dass sie mich mit Strohhalmen wegtrinken können. Mörder begannen, ihre Äxte in meine Richtung zu werfen, die Erde bebte, der Himmel brannte.
Und ich lag da, dachte an den Mut, den Mut, den heiligen verfluchten Mut, wollte ihn so sehr, wollte ihn noch mehr, Muhuhuuuuuut wo bist du? Ich brauch dich! Will dich! Jetzt! Jetzt sofort!

Scheiss drauf. Weg hier.
Quetsch, entknot, Schlüssel dreh, davon ras.
Mitten in ein Dorf direkt unter eine Strassenlaterne.
Atmen.
Froh sein, dass ich diesen Spruch nie gepostet habe.
Beschliessen, dass ich nie wieder versuche, alleine in einem Wald zu schlafen.
Und mir für unvorhersehbare Notfälle eine Packung Windeln kaufe.