Möchtegern-Ballerina

Eben musste ich an einer Kasse anstehen.
Ganze zwei Menschen waren vor mir in der Schlange. Zwei Menschen!
Eine endlose Qual für mich.
Ich begann, meinen Oberkörper hin und her zu drehen und fands lustig, wie die Gurt-Enden meines Mantels an meine Beine klopften. Bis mir auffiel, dass hinter mir ein weiterer Mensch stand. Und ich offensichtlich kein Kind bin, das ohne Aufsehen zu erregen Gurt-Enden-Klopfspiele spielen kann. Also ging ich über zu meinem Tarnprogramm. Ich stand auf meine Zehenspitzen. Wippte rauf und runter. So hoch wies geht. Weil ich finde, dass ich dann aussehe wie eine Tänzerin, die Ballettübungen macht. Und das ist sehr erwachsen.
Irgendwann erreichte ich runter- und hochwippend den ersten Platz in der Schlange. War überglücklich, dass der Kassierer einer war, der schnell sprechen, schnell eintippen und schnell einkassieren kann und schoss im Stechschritt von dannen.
„Geduld“ ging mir durch den Kopf. Ge-duld. Ged-uld. Get-old? Woher stammt dieses fieseste aller Wörter? Es kann nichts Gutes bedeuten. Denn jedes Mal wenn mir wer sagt: „Sei geduldig“, wird mir übel und es fühlt sich an, wie wenn sich eine graue Wolke um mich legen würde. Geduuuulllddddd…. Wie oft ich das schön gehört habe. Und wie absolut rein gar keine Ahnung ich habe, wie sie sich anfühlt.

Vor Kurzem wollte ich in einer Stadt was zu Essen kaufen. Es war eine lustige Stadt. Da gabs praktisch nur Konditoreien und überall waren unzählige alte Menschen am Dessert essen. Diese Stadt scheint ein Dessertesspilgerort zu sein für alte Menschen. Das gefällt mir. Wie sie da gemütlich zusammen sitzen, genüsslich Süsses in sich rein stopfen und Kaffee schlürfen. ABER! Zuerst gehen sie in die Konditorei und kaufen die Süssigkeiten. Und da wirds schwierig. Das gibt endlose Schlangen von alten Menschen, die fern aller Entscheidungsschnelligkeit sind und eine halbe Stunde brauchen bis sie ihr Portemonnaie gefunden und ihr Kleingeld daraus gefischt haben.
Und ich… mache all meine Klopfspiele, wippe eifrig mein Ballerinaprogramm und versuche mich mit Pralinen-Anstarren abzulenken, doch plötzlich muss ich einfach raus. Weg von der Schlange, die nie kürzer zu werden scheint, weg von all diesen unglaublich langsamen Menschen, weg von der Stimme, die mir schon wieder ein fieses „Geduhuuulldddd“ ins Ohr zischt.
Hin zur nächsten Konditorei. Da das Selbe nochmals von vorn. Mein Magen knurrt. Langsam wird mir schwindelig weil ich eine Essen-Verbrennung habe, die so schnell unterwegs ist wie ich. Ich hab zuerst keinen Hunger und von einer Sekunde auf die nächste bin ich beinahe am verhungern.
Ich zapple in der Schlange rum, bete um ein Geschwindigkeitswunder, frage mich ob sie es bemerken würden wenn ich mich vordränge – die meisten sehen ja kaum noch was, probiere es mit einem verzweifelten Blick zur Kassierin in der Hoffnung, dass sie Erbarmen hat und mir schon mal ein paar Pralinen zuwirft damit ich nicht umfalle, zapple noch mehr, mein Gurt schlägt ein paar Sachen vom Regal runter und kurz vor dem Ziel – es sind nur noch drei Menschen vor mir in der Schlange – muss ich sofort unbedingt absolut dringend raus aus dem Geschäft.
Langsam kommt in mir Verzweiflung auf. Ich weiss ich muss essen. Aber der Preis ist zu hoch. Geduhuuuuldddd ist mir immer noch ferner als die Angst davor, unterzuckert in Ohnmacht zu fallen. Ich laufe durch die Gassen, immer wie schneller. Suche. Hoffe.
Und finde plötzlich eine leere Bäckerei. Mit einer Auswahl an wirklich ekelhaften Sachen. Und weiss sofort, warum es hier keine Schlange hat. Ich kaufe ein vertrocknetes Sandwitch und weiss, dass ich inzwischen längst in der ersten Schlange zuvorderst wäre, vergnügt die leckerste Süssigkeit essen und mit Opi in der Schlange hinter mir flirten würde wenn ich sie hätte. Die Schlangensteh-Akzeptanz. Die Fähigkeit, Zeit auszuhalten in der nichts passiert. Die Faszination für Langsames.
Aber nein. Es ist nirgendwo in mir auch nur eine Spur davon zu entdecken. Auch beim Schreiben. Ich schreibe die Texte in einem Tempo, das meine Tastatur beinahe zum Glühen bringt, dann überfliege ich sie kurz und klicke auf Posten. Meine Mutter liest meine Texte. Und hat mir kürzlich geschrieben: „Möchtest du sie nicht zwei Mal durchlesen bevor du sie abschickst? Deine Rechtschreibung wäre ja eigentlich wirklich sehr gut.“
Liebe Mutter. Du hast wirklich alles gegeben. Hast mich mit einer fetten Portion Optimismus, mit einer schönen Augenfarbe und den längsten Beinen ever ausgestückt.
Aber etwas – und das verzeihe ich dir nicht – etwas hast du vergessen. Mir wenigstens ein kleines bisschen – zumindest so einen halben Millimeter Geduld einzupflanzen. Dann ja. Dann würde ich Texte zwei Mal durchlesen vor dem Abschicken. Dann würde ich regelmässiger essen, wäre jetzt vielleicht tatsächlich eine Ballerina und vielleicht wärst du auch nicht bereits mit 49 Oma geworden. Du wolltest nicht „Oma“ genannt werden. Wünschtest dir irgend ein schöneres Wort wie „Mamacita“ oder so.
Aber da war meine Chance zur Rache. Du gibst mir keine Geduld? Dann geb ich dir die Oma.