Käse im Kopf

Kürzlich auf einem Parkplatz: Ich halte vor dem Einparkieren an um meine Mitfahrerin raus zu lassen. Der Parkplatz ist so eng, dass sie sich auf Regenwurmgrösse hätte zusammen ziehen müssen um sich aus dem Auto zu schlängeln. Ich stehe da max. eine Minute, der Autofahrer hinter mir hupt. Keine Ahnung was er denkt. Vielleicht, dass es mein Hobby ist, einfach irgendwo mit dem Auto rumzustehen und den schönen Parkplatzboden zu bestaunen? Oder dass ich gar nicht merke, dass ich angehalten habe und er mich darauf aufmerksam machen muss, dass ich nicht in Bewegung bin? Keine Ahnung. Könnte auch sein, dass er einfach bereits nach einer Minute warten die Nerven verliert. Aber davon gehe ich natürlich nicht aus. Wäre ja schon fast frech, ihm sowas vorzuwerfen. Wir sind ja schliesslich in der Schweiz. Obwohl… Kürzlich las ich in einem Buch von Milena Moser, dass sie es nach dem Auswandern nach Amerika genoss, nicht dauernd zurechtgewiesen zu werden. Weil das Schweizer so liebend gerne tun und Amerikaner anscheinend nicht. Klingt zwar sympathisch, doch die Folge davon ist, dass sie es akzeptieren, wenn sehr merkwürdige Gestalten Präsident werden. Obwohl – das akzeptiert ja die ganze Welt. Niemand schlägt Alarm, wenn der mächtigste Staat der Welt Kandidaten präsentiert, die uns alle in Angst und Schrecken versetzen sollten. Nicht mal die Schweiz. Nein, die Schweizer konzentrieren sich lieber auf das, was sich direkt vor ihrer Nase abspielt. Da sie sich so um Neutralität im Weltgeschehen bemühen, entsteht in ihnen ein Meckerstau, den sie dann innerhalb der eigenen Landesgrenze umso mehr ausleben.

Ich las dies und noch am selben Abend fuhr ich mit dem Fahrrad durch ein französisches Städtchen. Ohne Licht weil ich das Fahrrad noch nicht lange habe und vor lauter Freude darüber blind war für seine Mängel. Fehlendes Licht z.B.
Ich fuhr mit ca. 5 km/h auf dem Bürgersteig, der sehr breit war. So langsam wie man mit einem Fahrrad fahren kann ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Ca. bei dem 50. Menschen, den ich so überholte hörte ich, wie dieser sagte: „Hey! Und das Licht?!“ In Schweizerdeutsch.
Ich dachte an die Worte von Milena Moser, lachte und antwortete: „So eine Schande, nicht?“ und sein Sohn sagte erschrocken: „Oh… Die spricht auch Schweizerdeutsch“.
Heisst, das Gemecker war nicht mal dafür gedacht, mich zurechtzuweisen. Er dachte, ich würde ihn nicht verstehen. Doch das Meckern musste sein. Es musste raus. Meckerstau macht Ziegenkäse im Hirn. Das will niemand.

Gestern auf dem selben Parkplatz wie vorheriges Mal. Ich parkiere und streife dabei mit meinem Rückspiegel den von einem anderen Auto. Ganz langsam und ohne einen Schaden zu hinterlassen. Es ist mehr ein Streicheln als ein Streifen.
Für mich nichts Besonderes da ich beim Einparkieren dauernd vergesse, dass ich mehrere Seiten von meinem Auto beachten muss. Was man meinem Auto sehr deutlich ansieht, anderen Autos glücklicherweise bisher erst zwei Mal. Dafür umso heftiger.
Ich freue mich darüber, dass es kein drittes Mal wurde und bemerke plötzlich, dass im anderen Auto eine Frau sitzt, die mich mit zornesblitzenden Augen anstarrt. Sie zeigt auf den Spiegel, schüttelt den Kopf, sagt was, was ich nicht hören kann, schüttelt wieder den Kopf, zeigt nochmals auf den Spiegel… Ich entschuldigte mich in Pseudogebärdensprache so gut ich kann und suche so rasch wie möglich das Weite. So wütend ist die, dass ich mich zu fürchten beginne. Doch sie steigt glücklicherweise nicht aus.
Nach dem Einkauf ist sie weg und es steht ein anderes Auto neben meinem. Ich bin erleichtert. Setze mich auf den Fahrersitz und esse was. Kurze Zeit später steigt eine Frau in das andere Auto und schaut mich an. Lange. Mit einem Blick, der absolutes Verachten ausdrückt. Ich erstarre. Frage mich, was ich nun falsch gemacht habe. Habe ich geschmatzt beim Essen? Nein, das hätte sie nicht gehört. Hat mein Auto versucht, ihres zu küssen? Nein, mein Auto steht ausschliesslich auf verbeulte Autos. Nur wer vom Leben gezeichnet ist, hat Spannendes zu erzählen. Das weiss es so gut wie ich.

Was ist es dann?

Mein Hirn rast durch alle Möglichkeiten. Ich war barfuss einkaufen. Auf meinem Beifahrersitz ist ein heilloses Chaos. Ich esse kurz was und gebe den Parkplatz nicht sofort wieder frei. In meinem Auto ist hinten ein Bett eingerichtet und die Decke liegt nicht ordentlich da. Vorne im Auto ist alles voller Glitzer. Es hat viele Beulen. Und Rost. Die Scheiben sind nicht sauber. Ich hab meine Haare vorgestern zum letzten Mal gewaschen. Ich hab die Buchhaltung seit drei Monaten nicht gemacht. In der neunten Klasse hab ich bei jeder Prüfung geschummelt. Hm nein gelogen – auch in der 6., 7. und 8. Ich habe meine Mutter belogen als sie mich mit 14 fragte, ob ich rauche.
Aaaaaaaaaah!!!! Was ist es??
Sie fährt weg ohne mir meine Frage zu beantworten und ich explodiere. Meckere was das Zeug hält. „Ihr könnt mich mal! Ich hab euch sowas von satt! Ihr scheiss Bünzlis und Meckerer!“
Und verstumme dann. Werde traurig. Weil ich mich anstecken liess von den Meckerern. Auch zu einem mutierte.
Frage mich, was den anderen passiert ist, dass sie zu Meckerern wurden. Wer sie angesteckt hat.
Und spüre Mitleid. Ein klein wenig Ziegenkäse in meinem Kopf spüre ich auch. Weil ich ganz gerne noch ein wenig länger rumgebrüllt hätte, nun jedoch nicht mehr kann.

Ich überlege, nach Amerika auszuwandern.
Milena Moser zu gestehen, dass ich sie liebe seit dem ersten Buch, das ich von ihr gelesen habe und sie zu fragen, ob ich in ihrer Garage wohnen darf.
Und jedes Mal wenn mir doch ein klein wenig Gemecker entfährt wenn ich die Präsidentschaftswahlen beobachte, werde ich sagen: „Ich bin halt Schweizerin.“ Alle würden darüber lachen und ich würde niemanden anstecken mit Meckeritis. Weil mich niemand ernst nehmen würde – denn eine Schweizer Neutralo-Braut, die ihr Gemecker damit erklärt, dass sie Schweizerin ist, klingt ganz klar nach einem Hirn voller Käse.