Gym
Eigentlich wollte ich heute nach Marokko gehen. Seit einem Jahr war das schon klar.
Wie das Hippies halt so tun. Der Sonne entgegen fliehen, guten Hasch rauchen, buntes Zeugs kaufen auf dem Markt und auf Kamelen durch die Wüste bambeln.
Genau das hatte ich vor. Also alles ausser das mit den Kamelen. Ich find die Vorstellung schrecklich, mit einer Horde Touristen durch die Wüste zu ziehen. Ich bin sowas von Touristin in anderen Ländern, aber will auf keinen Fall auffallen dabei. Was gar nicht so einfach ist mit meiner Körpergrösse in Ländern, wo ich sogar 99% der Männer um eine Kopflänge überrage.
Aber wie ein Sandsack auf einem Kamel rumhoppeln kommt nicht in Frage. Ich würde zuerst ein Kamel nach Niederscherli holen und hier im Geheimen das Kamelreiten lernen. Und dann würde ich alleine mit ihm in die Wüste gehen. Bloss niemanden um Hilfe bitten, zu peinlich ist es, zuzugeben wie Zivilisationsdegeneriert ich bin. Lieber in der Wüste verloren gehen als das. Lieber von meinem Kamel aufgefressen werden weil ich es aus Versehen in die sehr dumme Lage gebracht habe, wo es wählen muss zwischen degenerierter Dame fressen oder zu verhungern. Lieber von Skorpionen angefallen werden, von Giftschlangen erdrosselt, von Assgeier entäugt werden.
Ich schweife ab. Eigentlich wollte ich einfach nach Marokko gehen ohne entäugt oder erdrosselt zu werden.
Warum genau wusste ich nicht. Vor Kurzem versuchte ich jemandem zu erklären, warum ich so unbedingt dort hin will. Und sagte: „Ich muss dort einen Rubin finden“. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit meinte. Warum ich da einen Rubin finden sollte. Was ich mit einem Rubin anfangen soll. Es war einfach so. Ich sollte einen Rubin finden.
Doch dann kam alles anders. Urplötzlich wollte ich auf keinen Fall mehr nach Marokko gehen. Alles und überall hin, bloss nicht nach Marokko. Wie das bei mir halt so passieren kann. Im einen Moment will ich in einem Schloss wohnen, im nächsten in einer Höhle im Wald. In einem Moment will ich mit dem Rauchen aufhören, im nächsten Moment zünde ich mir eine Zigarette an.
Gerade Linien zu gehen ist mir nur selten möglich. Mein Leben passiert einfach irgendwie. Plötzlich bin ich irgendwo und irgendwas und weiss oft nicht so recht, wie ich da hin gekommen und das geworden bin.
Heute war ich auf jeden Fall plötzlich nicht in Marokko wo ich eigentlich hätte sein sollen.
Vielleicht wäre ich doch noch dort gelandet, wenn ich nicht vergessen hätte, dass heute der Tag war, an dem mein Flug gebucht war. Aber ich habs nun mal vergessen, also bin ich nirgendwo gelandet. Hab Staub gesaugt, gearbeitet, irgend einen Stein auf dem Boden gefunden und ihn in meine Hosentasche gesteckt, hab Holz gehackt, ganz viel Gedanken gedacht, die ich gar nicht denken wollte und dann… Ging ich ins Gym.
Ins Gym.
Jawoll.
Ins Gym.
Ich muss das wohl noch ein paar Mal schreiben damit ich es mir selber glaube. Ich ging ins Gym.
Zu den sportlichen Menschen! Zu dieser Spezies, neben der ich mich wie eine Touristin fühle. Schon mein Leben lang beobachte ich sie. Immer aus grosser Ferne. Versuche zu verstehen, warum sie sich so gerne quälen. Betrachte fasziniert ihre Kleider, die sie nur für diese Tätigkeit tragen. Ich habe kein einziges Kleidungsstück, das nur für etwas bestimmt ist. Ich trage alles für alles. Ok… Gummistiefel im Bett eher selten. Aber gäbe es warme Füsse, würde ich es tun.
Diese Menschen wirken so organisiert. So ordentlich. Mit all diesen klar definierten Muskeln überall.
Und waren mir ein wenig unheimlich.
Aber heute… Wagte ich es. Und ging an ihren Ort.
Voller Angst und Unbehagen.
Denn es war klar – sie würden mich alle auslachen. Mich und meine unordentlichen Muskeln. Meine rosa farbene Trainerhose, die gefüttert und viel zu warm ist um in ihr Sport zu machen. Meine Hände, die immer ein wenig Schwarz sind vom Russ meines Ofens. Meine Haare, die so Kammresistent sind, dass ich sie regelmässig davon abhalten muss, kulturelle Aneignung zu praktizieren weil sie sich liebend gerne zu Dreadlocks verknoten.
Meine Fingernägel, die schon mal jemanden fast zum weinen gebracht haben weil ich sie nie feile. Geschweige denn anmale.
Meine Unwissenheit wenn ich vor diesen Geräten stehe.
Aber ich tat es. Ging in den Raum. Hechtete mich auf ein Gerät und begann mein sportliches Leben. Gebar die neue Mirjam.
Ich sportete wie wild.
Hampelte auf Geräten rum wie eine Puppe, die nicht begreift, dass sie die Geräte steuert und nicht die Geräte sie, war überaus stolz als ich das doch noch begriff und meine Beine nicht mehr unkontrolliert durch die Gegend flogen, warf anmutig mein Handtuch über die Geräte als hätte ich noch nie im Leben was anderes getan als gesportet wie blöd, leerte mir Wasser über den Kopf, trommelte auf meinem Brustkasten und schrie „Jane“ durch die Halle weil ich plötzlich genau wusste wie Tarzan sich fühlte und rannte zu all meinen neuen Sportfreunden um ihnen ein High Five zu geben weil ich mal gesehen habe, dass Sportliche das so tun.
Danach ging ich nach Hause.
So glücklich wie seit Tagen nicht mehr.
Unterwegs spürte ich in der Hosentasche den Stein, den ich vor dem Staubsauger gerettet hatte. Ich schaute ihn mir an. Fassungslos.
Es ist ein Rubin. Noch nie zuvor gesehen.
Gefunden in meinem Zimmer.
Am Tag als ich nicht nach Marokko ging obwohl ich dachte, ich müsse dort einen Rubin finden.
Ich liebe das Leben.
Und das Gym.
Und Jane.
Halleluja