Herdentiere
Manchmal bin ich eine wandelnde Wutknolle. Ein Trauertränenmeer. Ein Verzweiflungsvulkan.
Niemand wird eine Piratin, wenn sie bloss Rosa sieht. Diese Menschen werden Prinzessinnen. Einhornreitende. Ich bin eine Teichpiratin mit Löchern in den Kleidern, nebst Lach- auch einigen Wutfalten im Gesicht und ich reite weder Einhörner noch sonst irgendwelche Tiere weil ich es selber ziemlich scheisse fände, wenn ich dauernd wen rumschleppen müsste.
Heute furchen sich Wutfalten tief in mein Gesicht. (Ganz nebenbei bemerkt: Schon mal gefühlt, wie viel Kraft Wut in sich trägt? Ich hatte heute – an diesem wütenden Tag so viel Energie wie schon lange nicht mehr.)
Ich bin wütend weil ich gestern die Worte gelesen habe: „Du musst dich zuerst selbst lieben bevor du dich lieben lassen kannst“. Solche Sätze gibt es zuhauf. In unterschiedlichsten Versionen. „Du musst dich zuerst selber lieben, bevor du andere lieben kannst“ – „Du musst dich zuerst selbst lieben, damit du geliebt wirst“.
Für mich sind das Sätze aus der neuen Esoterik-Religion. Immer mehr Menschen befreien sich von den alten Religionen. Bloss um gleich in die nächste zu hüpfen. In den nächsten Käfig, in die nächsten Dogmas, in die nächste Passform, die uns davon abhält, endlich mal zu entdecken, was für uns stimmt und was nicht.
„Du musst zuerst… Und dann kannst du… Darfst du… Bist du würdig genug… Erleuchtet genug… Rein genug…“ Und bevor du nicht so krass an dir gearbeitet hast, dass du praktisch erleuchtet bist, hast du nichts Schönes verdient. Hölle ahoi.
Das ist so Einzelkämpfer*innen Zeugs. Du musst alles alleine können. Du darfst niemanden brauchen. Du musst dir alles selber geben könnnen. So ein Chabis!
Ich bin z.B. kein Mann und kann mir darum einen ganz bestimmten Körperteil nicht selber geben. Wäre ich ein Mann, könnte ich ihn mir auch nicht geben. Weil ich keine Frau wäre. Get it?
Ich kann alleine keine Band gründen. Eine One-Woman-Show ja. Aber keine Band. Ich kann mir nicht die hilfreichen Worte sagen, die mir meine Freundinnen erzählen. Weil ich nicht so denke wie sie. Weil ich nicht die selbe Weisheit besitze wie sie. Andere. Doch niemals die Selbe.
Wir sind Herdentiere. Wir brauchen einander.
Und wir dürfen einander auch brauchen um zu realisieren, dass wir liebenswert sind. Wir können geliebt werden obwohl wir uns selber nicht lieben. Und es kann passieren, dass wir genau dadurch realisieren, wie liebenswert wir sind und damit beginnen können, uns selber zu lieben.
Wir dürfen einander brauchen um Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir können so richtig gutes Zeug in die Welt raus bringen ohne bereits selbstbewusst zu sein und ohne selber zu wissen, wie gut es ist.
Durch die Reaktionen der anderen können wir erleben / realisieren, wie gut es ist und selbstbewusst werden.
Ein Beispiel: Ich begann mit den Trommelkreisen aus einem Impuls. Nichts anderem als einem Impuls! Ich war weder mutig, vertrauensvoll, optimistisch, noch hatte ich das Gefühl, ich könne gut Kreise leiten. Ich wusste nicht mal, was ich genau tun würde bei diesen Kreisen.
Ich hatte bloss die Idee: „Ich will Trommelkreise für Frauen anbieten“, in der nächsten Sekunde hatte ich bereits einen Raum gebucht und Werbung gemacht. Und schon kamen die ersten Anmeldungen rein. Und die Angst überrannte mich wie eine Horde Elefanten. Aber ich konnte nicht zurück. Die Frauen wollten trommeln und ich… Hoffte…
Während dem ersten halben Jahr dachte ich bei jedem Kreis, dass sie es eigentlich voll blöd finden und nur mir zuliebe bis zum Schluss bleiben. War erstaunt über ihre schönen Rückmeldungen und traute meinen Augen nicht, wenn sie sich für ein weiteres Mal anmeldeten. Weil ich selber nicht wusste, dass das was ich anbiete, wirklich toll ist. Und fand, ich plappere viel zu viel Unsinn vor den Kreisen, sei zu unsicher, spiele zu schlecht, sei zu blablabla…
Aber irgendwann… begann ich ihnen zu glauben. Irgendwann konnte ich durch ihre Freude erkennen, wie super diese Kreise sind. Und biete sie heute voller Selbstbewusstsein an.
Aber! Noch immer denke ich ab und zu: „Oje. Diesen Kreis fanden sie jetzt sicher blöd. Ab sofort wird sich wohl niiiiie wieder auch nur eine Frau anmelden“.
Inzwischen weiss ich jedoch, dass das irgend eine komplett durchgeknallte Stimme in meinem Kopf ist und nicht die Wahrheit. Ich höre ihr zu, sage zu ihr: „Danke fürs Mut machen und diese unglaublich konstruktive Kritik du Arsch“ und glaube einfach den Frauen und dem Wissen, das ich entwickeln durfte dank ihren Rückmeldungen und nicht dieser Stimme.
Mit der Liebe ist es das Selbe. Ein paar Menschen schenken mir so endlos viel Liebe, dass ich mich daran erinnere wenn ich mich wieder mal als eine wandelnde Zumutung sehe. Und denke dann einfach: „Ok, wenn die mich dermassen lieben können, bin ich wohl tatsächlich eine liebenswerte Zumutung.“ Und mag mich wieder mehr. Mit all meinem Zumutigen und sonstig Anstrengenden. Oder mag mich immer noch nicht, bin aber beruhigt weil ich weiss, dass wenigstens andere mich lieben.
Samesame mit der Schönheit. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich oft zuerst alles, was mir nicht gefällt. Da mir aber immer wieder Menschen sagen, wie schön ich sei, habe ich gelernt dass ich schön bin. Auch wenn ich das selber nach wie vor noch nicht immer sehe und mir immer wieder mal eine Burka wünsche. Sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass da Schönes ist. Und dank ihnen habe ich es auch entdeckt. Und wenn ich es mal beim besten Willen nicht sehen kann, bin ich ebenfalls beruhigt. Denn ich weiss – wenigstens die anderen können es sehen.
ALLES DANK ANDEREN MENSCHEN!
Nicht weil ich zuerst monatelang alleine vor dem Spiegel sass und versucht habe, meine Schönheit zu sehen.
Nicht weil ich sieben Jahre den Satz „Ich liebe mich“ meditiert habe.
Lasst uns einander brauchen. Lasst uns unperfekt in Situationen rein stürmen, die uns endlos viel Angst machen und von denen wir nicht glauben, dass wir sie meistern können. Von denen wir denken, wir seien noch viel zu unfähig.
Lasst es uns gegenseitig beweisen wie liebenswert, gut, schön und fähig wir sind. Und lasst es uns gegenseitig so oft sagen bis wir es alle glauben.
Lasst uns Herdentiere sein.