Extremfühlmensch

„Du bist halt einfach ein Gefühlsmensch“ hörte ich schon x Mal in meinem Leben. Und ich verzog jedes Mal das Gesicht beim Hören dieser Worte. Gefühlsmensch. So ein doofes Wort. Alle Menschen haben Gefühle. Hoffe ich zumindest. Wenn das wer zu mir sagte, gab es mir das Gefühl, schwach zu sein. Gefühlsdusslig zu sein. Mich nicht im Griff zu haben.

Aber… sie haben recht.
Ich bin wandelndes Extremgefühl. Alles fühle ich so stark, dass ich mein Leben locker einfach mit Gefühle fühlen verbringen könnte. Damit, auf diesem endlosen Sturmmeer von Gefühlen mein Boot irgendwie über Wasser zu halten, die Segel zu richten, Fische zurück ins Meer zu werfen, die der Sturm ins Boot gespickt hat, mich mit Haien zu prügeln die am Boot nagen, mit dem Wind um die Wette zu singen, Möwen zu füttern, juchzend im Regen zu tanzen, Wellenrauschenklang nachzuahmen und zurück zum Boot zu schwimmen wenn mich eine Monsterwelle über Bord gekickt hat.

Wie ich auf die Idee komme, dass das bedeutet, schwach zu sein, ist mir ein Rätsel. 42 Jahre im Sturmmeer zu überleben benötigt Kraft ohne Ende.
Und das mit mich nicht im Griff haben stimmt auch nicht. Die Gefühlswellen kommen und gehen wie sie wollen. Aber mit jedem Tag der an mir vorbei stürmt, weiss ich besser, wie ich die Wellen surfen kann. Was ich brauche damit es mich nicht von Bord wirft. Wie ich raschmöglichst viel Wasser aus dem Boot schaufeln kann.
Und ich lernte, mich nicht mehr vor Monsterwellen zu fürchten. Weil ich weiss – selbst wenn es mich doch mal von Bord fegt, schaffe ich es jedes Mal, zum Boot zurück zu schwimmen. Viel schneller als früher weil ich inzwischen verdammt gut schwimmen kann.

Dazu gehört, dass ich Menschen enttäusche. Weil ich allen absage wenn ich merke, dass ich mich gerade um einen Hai kümmern muss.
Und auch Menschen vor den Kopf stosse. Weil ich bei Konzerten eine Ausnahme mache und auch spielen gehe, wenn gerade eine Horde Pinguine mein Boot kapern will. Dann jedoch komplett überfordert bin von Gesprächen, manchmal nicht mal merke dass wer mit mir sprechen will, distanziert bin, mich in einer Ecke verstecken möchte oder wenn es einen hat, vor und nach dem Konzert nur im Backstage bin. Dazu kommt der ganze Cocktail an Hormonen, die vor und während Konzerten ausgeschüttet werden. Der beste Trip ever – aber trippende verstehen sich meistens nur mit mittrippenden gut.

Während vielen Jahren glaubte ich allen, die mir sagten, es sei nicht gut, ein Extremfühlmensch zu sein. Besuchte x Therapien wo mich Menschen voller Elan von allem Möglichen befreien wollten. Mit Techniken, die mir manchmal Lachkrämpfe bescherten und andere Male meine Augen fast zum Austrocknen brachten weil sie vor Schreck ganz lange ganz weit aufgerissen waren.
Gebracht hat es ausser ungewöhnlichen Erlebnissen nichts. Ich fühlte und fühle. Extrem.
Ist ja auch ein ziemlich absurder Gedanke, Haie ausrotten zu wollen. Oder das Meer dazu zu bringen, keine Wellen mehr zu bilden. Was mir leider erst vor wenigen Jahren aufgefallen ist.
Evt. liegt es daran, dass ich panische Angst vor Haien habe und es voll ok fände, wenn sie ausgerottet würden. Stechmücken finde ich auch so unglaublich unnötig. Ich bin mir sicher, ihre Aufgabe im Naturkreislauf könnte locker ein weniger nerviges Tier übernehmen. Haben sie überhaupt eine andere Aufgabe als uns zu nerven und uns Blut zu klauen? Ich denke nicht.
Wie auch immer – ich entdeckte, dass ich weder Haie, noch Möwen ausrotten muss (über die Stechmücken lässt sich diskutieren), sondern lernen kann, nicht vor Angst zu sterben wenn ein Hai kommt, den Flug der Möwen zu beobachten damit sie mir nicht mehr auf den Kopf kacken, die Segel richtig zu setzen damit sich das Boot in die gewünschte Richtung bewegt und Fische nicht gegen den Wind von Bord zu werfen. Alles darf da sein. Bloss mein Umgang damit kann ich verändern wenn ich das will. So eine Erleichterung!

Was ich leider immer noch nicht weiss, ist, wie ich mit Menschen umgehen soll, die ich enttäusche. Das Wort „Schade“ ist das allerschlimmste Wort auf Erden! Wenn wer sagt: „Oh, das ist jetzt aber schade“ beginnt in mir sofort ein übler Schimmelpilz zu wuchern. Der frisst meine Eingeweide und wenn ganz viele Menschen in kurzer Zeit dieses Wort sagen, besteht die Gefahr, dass der Schimmelpilz aus meinen Ohren wächst und dann die ganze Welt auffrisst. Also hört bitte auf damit! Es geht hier um das Überleben aller! Es wäre viel schader, wenn Schimmelpilz die ganze Welt auffressen würde als wenn ich mal absage!

Lasst es uns viel lieber feiern wenn jemand absagt. Feiern weil dieser Mensch sich selbst so gut wahrnimmt, dass er/sie fühlt, dass sie/er sich gerade um sein Boot und seine Meerwelt kümmern sollte. Feiern weil dieser Mensch so mutig ist, Erwartungen nicht zu erfüllen.

Und lasst uns doch was ausrotten. Das Wort „Schade“. Und Stechmücken. Und Schimmelpilz in Menschen. Danke.

Ah und: Wenn ich mal vor oder nach Konzerten bloss Schrott erzähle, dich nicht beachte oder wenns ganz übel läuft, mit dem Gesicht zur Wand in einer Ecke stehe: Es liegt nicht an dir. Ich bin dann einfach grad mit Pinguinen am kämpfen. Oder am Hormontrippen.

Ahoi!