Emmental, vielleicht mag ich dich doch

Ich überlege ernsthaft, ins tiefste Emmental zu ziehen wo ich seit 5 Wochen in einem Haus sein darf. So richtig. Mit allem was ich besitze. Was ziemlich trostlos wäre, hätte ich nicht das Glück, in ein möbliertes Haus ziehen zu dürfen. Denn ausser Kleider und Instrumenten besitze ich fast nur noch ein paar unnütze Sachen, von denen ich mich nicht trennen kann. Was es genau ist, weiss ich nicht mehr weil ich es seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen habe und nichts davon vermisse. Es wird wie Geburtstagsgeschenke auspacken. Vielleicht auch frustrierender. Weil ich sie mir selber schenke und sie dann niemals weg geben darf. Man darf keine Geschenke weg geben, wenn es der/die Schenkende merken könnte. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es merken würde wenn ich was verschenke.

Ich schweife ab. Wie immer…
Eigentlich wollte ich ganz was anderes erzählen.
Vom Emmental. Ich war ja sehr skeptisch. Ich bin im Emmental aufgewachsen. In einem kleinen Bauerndorf. Ich weiss was Emmental bedeuten kann…
Aber dann… Entdeckte ich Sachen, die ich längst vergessen hatte und die mich heute faszinieren. Z.B. Schilder auf denen steht: „Plauschhornussen“ oder „Amtsmusikfest“. Diese Wörter wirken auf mich wie aus einer fremden Welt. Ich verstehe sie nicht. Gibt es auch ein „Angepissthornussen“? Oder ein „Zwangshornussen“? Was halten eigentlich Hornissen vom Hornussen? Oder sowieso alle Insekten? Ein Hornussturnier ist ja wie ein spontaner Bombenangriff für sie. Und wie geht es all den Menschen, die so einen Hornuss an den Kopf kriegen? Sind das die Menschen, die meine Erinnerungen ans Emmental so dunkel prägen?
Und Amtsmusikfest… Spielen hier alle in einem Amt ein Instrument? Proben die zusammen? Wann? Warum hat mich niemand eingeladen in die Amtsmusikband als ich in meiner Lehre auf der Gemeindeverwaltung war? Vielleicht hätte ich sie dann nicht nach einem halben Jahr abgebrochen.
Niemand wollte mich in der Gemeindeverwaltungamtband Konolfingen.
Ein grosser Verlust für mich.
Ich liebe diese Wörter. Weil ich nicht weiss, was sie bedeuten und ich mich fühle wie auf einer spannenden Entdeckungsreise.

Aber was mich am meisten fasziniert ist folgendes:
Letztes Wochenende war ich an einem Konzert, denn wenn hier schon mal was läuft geh ich hin, egal was es ist.
Es war schrecklich.
Der Sänger ein Narzisst wie aus dem Bilderbuch, die Musik langweilig wie die aus dem Amtsmusiklehrbuch. Als wäre er Jesus-himself, jockelte er über die Bühne und warf dem Publikum verachtende Blicke zu weil sie nicht schon beim dritten Song auf Kommando klatschten.
Die Meisten bekamen das gar nicht mehr mit, weil sie schon nicht mehr zuhörten und sie hätten wohl höchstens noch geklatscht, wenn der Lärm endlich zu Ende gewesen war.
Vor Erleichterung. Nicht aus Begeisterung über das eben gehörte.
Es half nicht, dass er irgendwann sein Ledergilet auszog und sich mit nacktem Oberkörper und in Skinny-Jeans auf der Bühne räkelte wie ein Schlangenmensch, der wenig Ahnung von Schlangen hat. Auch nicht, dass sein Bassist urplötzlich auf einem Subwoofer stand. Ich hab in Videos gesehen, dass berühmte Bands so auf Sachen rauf stehen und sich dann alle freuen. Das kann also durchaus funktionieren.
Aber dieser Bassist stand da so steif und unbeholfen wie eine fehlplatzierte griechische Statue. Niemand wusste so genau, wie er da hoch gekommen war. Er war plötzlich einfach da, blieb eine Weile stehen und kletterte wieder runter. Die Zugabe lieferte der Sänger unverstärkt und alleine. So ca. 10 Menschen hörten etwas, der Rest schaute erstaunt zur Bühne weil es so aussah, als würde er eine 5-Minütige Phantomimenshow machen.
Ja, dass meine Freundin buhte, war ein wenig übertrieben. Aber eigentlich bloss ehrlich zum Ausdruck gebracht, was ca. 90% vom Publikum dachte: „Was zum… soll dieser Scheiss?“
Auch am nächsten Tag war diese Band noch Dorfgespräch. Ein riesiges Geläster an jeder Ecke.

Und ich verliebte mich. Verliebte mich in diese Menschen, die Scheisskunst scheisse finden. Und nicht wie so viele Stadtmenschen offensichtliche Scheisskunst betrachten und so tun, als seien sie fasziniert damit niemand über sie denken könnte, sie seien Kunstbanausen.
Nur so können Picasso-Gemälde so teuer verkauft werden. Wegen Menschen, die so tun als fänden sie es toll weil es ja ein bekannter Künstler ist und wenn er bekannt ist, muss er gut sein und wer es schlecht findet, hat einfach keine Ahnung von Kunst.
Versuchte man im Emmental einen Picasso zu verkaufen, würden die Leute in einer Gruppe zusammen stehen, von Weitem schweigend und vor sich hin paffend das Bild anschauen, die Stirn runzeln, den Kopf schütteln und zurück zu ihrem Plauschhornussen gehen. Niemand würde es kaufen. Es könnte jedoch sein, dass ein paar danach versuchen würden, die Zeichnungen ihrer Kinder beim nächsten Landfrauenvereinbazar zu verkaufen. Einfach weil sie denken, dass man das heutzutage so tut.
Ich denke ich bleibe hier.
Ein klein wenig auch, weil mir eben ein Nachbar Kekse vorbei brachte als Entschuldigung weil er gerade laut Musik hört. Und mich nun für sein Pensionierungsfest engagieren will weil er meine Trommeln sah. Zu welcher Musik ich trommle, hat ihn nicht interessiert.
Es spielt keine Rolle. Denn wenn es schlecht ist was wir spielen, laufen sie einfach weg und hören es sich nicht an. Ich werde ein paar Packungen Kekse mitbringen und sie werden uns alles verzeihen.

Emmental, vielleicht mag ich dich doch.

Auf dem Bild: Emmentaler*innen an einem Scheisskonzert.