Verlassen
Heute passierte was Schreckliches. Ich wurde verlassen. Von ca. 7890 Kaulquappen.
Irgendwann dieses Jahr gings mir nicht sonderlich gut und ich ging zum Fluss runter. Ich schäme mich ein wenig weil ich nicht mehr weiss, ob es im Frühling oder im Sommer war – als Kaulquappenmutter müsste ich das natürlich wissen. Aber ich bin noch neu in dieser Branche und weiss nur noch, dass es dieses Jahr war und nicht letztes.
Auf jeden Fall ging ich da runter, starrte ins Wasser und entdeckte tonnenweise Froschlaich. Und beim Anblick von so vielen regungslosen Babys, entleerte sich augenblicklich mein restlicher Vorrat an Mutter-Beschützerinnen-Hormonen, und das ist ziemlich viel. Ich habe ja bloss ein Kind…
Meine Stimme wurde ca. eine Oktave höher als ich zu ihnen sprach, so wie sie es aus unerfindlichen Gründen immer tut wenn etwas klein und niedlich ist. „Ich werde euch beschützen. Nie werdet ihr austrocknen und ihr werdet die allerschönsten Frösche, die dieser Fluss je gesehen hat. Versprochen.“ zirpte ich und begann, bereits austrocknenden Laich vom Boden zu klauben um ihn ins Wasser zurück zu bringen. Von da an war ich fast täglich bei ihnen. Unermüdlich suchte ich die ganze Gegend ab nach meinen Babys, wurde Profi darin, ganze Laichballen aufzuheben ohne sie zu zerreissen, schüttete Wasser in austrocknende Pfützen, grub Kanäle, holte stinkende, vermoderte Blätter aus Tümpeln damit die Kleinen mehr Platz zum Schwimmen hatten, brachte Kaulquappen in grössere Pfützen, erklärte Molche zu meinen Feinden weil ich mir sicher bin, dass sie meine Babys essen, meine Hände rochen auch nach 10x waschen noch unsäglich krass eklig weil ich Kaulquappen aus extrem übel riechenden Sümpfen pulen musste, wo sie haufenweise am ersticken waren und ich regte mich fürchterlich auf weil sie wirklich ein unglaubliches Talent dafür haben, sich in die allerblödsten Situationen zu bringen. Man kann sich darauf verlassen – wenn bald irgendwo ein Arm eines Tümpels austrocknet – die Kaulquappen werden alles geben um genau in diesem Arm zu landen.
Nein, ich denke nicht, dass sie suizidal sind. Sie wirkten immer ziemlich überrascht darüber, dass sie schon wieder beinahe vertrockneten. Ich glaube – und das sagt keine Mutter gerne, aber ich will ja ehrlich sein – ich glaube, sie sind ein wenig bescheuert.
Aber egal – ich liebte sie, ich war für sie da und sie auch für mich. Mein Leben war plötzlich ultrasinnvoll. Jeden Tag rettete ich unzählige Leben.
Bis… Ich eines Tages sah, wie sie die Leichen von ihren toten Geschwistern assen. Ja klar, meine Schuld dass nicht alle überlebt haben. Aber trotzdem… Bloss weil Mami unperfekt ist, muss man doch nicht gleich seine toten Geschwister aufessen!Ich war zutiefst enttäuscht. Und dann kam der Erdrutsch und ich konnte sie nicht mehr besuchen.
Ganz ehrlich – es war mir ganz recht. Meine Mutterliebe kann vieles. Geschwister-essen akzeptieren gehört nicht dazu.
Aber heute vermisste ich sie plötzlich. Ich wollte nichts anderes mehr als meine Babys besuchen. Jaja, natürlich wusste ich, dass aus Kaulquappen Frösche werden, die weghüpfen. Aber irgendwas in mir glaubte felsenfest daran, dass das bei meinen Kaulquappen irgendwie anders läuft. Dass sie erst zu Fröschen werden wenn ich wieder da bin und ihnen bei ihren ersten Hüpfversuchen helfen kann. Oder dass sie auf mich warten bevor sie davon hüpfen. Ich freute mich so auf sie. Tausende Minifrösche stellte ich mir vor. In meiner Vorstellung konnten sie lächeln und manche hatten ein violettes Samtfell. Halt eben die schönsten Frösche, die es hier je gab. Ich hatte es ja versprochen.
Doch… Alle waren weg. Kein einziger! Wirklich kein allereinziger war mehr da! Nicht mal ein toter, angeknabberter Geschwisterfrosch. Nichts!Ich starrte fassungslos ins Wasser und zottelte irgendwann wehmütig nach Hause. Und eben wurde mir klar – heute muss ich Menschen retten. Euch.Ich muss euch warnen: Verschenkt nie eure Mütter- und Väterherzen an Kaulquappen. Sie werden ihre Geschwister aufessen und euch kaltblütig verlassen.
Und sie sind komplett bescheuert.